Vor dem Hintergrund des von NS-Deutschland begonnenen Vernichtungskriegs der deutschen Wehrmacht gegen die Sowjetunion – und angesichts der aktuellen Situation, in der Russland und Belarus von bundesdeutschen Politikern und Medien erneut zu Feinden erklärt worden sind, sollte bei dieser Veranstaltung (am 22. Okt. im Bürgerhaus Weserterrassen) der Frage nachgegangen werden: (Wie) glaubt Deutschland, seiner – niemals geleugneten – ‚historischen Verantwortung‘ gerecht werden zu können?
Beiträge dazu lieferten Wolfgang Müller (DRF) als Moderator, Herr Sergej Sipko als Vertreter der Botschaft der Republik Belarus, Edgar Zimmer vom Berliner Verein KONTAKTE – KOHTAKTbI und Oliver Schneemann (Verein ‚prospect mira‘).
Wolfgang Müller erinnerte zunächst an die Schreckensbilanz des Krieges und gab einen Kurzüber-blick über die wichtigsten finanziellen Hilfszahlungen für die verschiedenen Opfergruppen durch die deutsche Regierung. Edgar Zimmer berichtete von dem Bürgerengagement seines Vereins, wodurch seit 2012 mehr als 2000 Überlebende der verbrannten Dörfer in Anerkennung ihres Leids jeweils 300 € erhalten konnten, und wies auf weitere vergessene Opfergruppen hin, wie z. B. die überlebenden ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen, die noch nachträglich durch private Hilfsleistungen erreicht werden konnten. Der Verein versteht diese Hilfen nicht als „Wiedergutmachung“ oder „Entschädigung“, sondern verbindet sie mit der Bitte um Vergebung, nur durch Übernahme von Verantwortung ließe sich eine gemeinsame friedliche Zukunft erreichen.
Reise nach Belarus angeregt
Oliver Schneemann berichtete aus seinen vielen Friedensfahrten, die ihn auch in abgelegene Gegenden von Belarus führten, wo offizielle Finanzleistungen ebenso wenig angekommen waren wie Repräsentanten des deutschen Staates, die um Entschuldigung gebeten hätten. Mit um so größerer Herzlichkeit seien sie als deutsche Friedensbotschafter dort aber immer begrüßt worden. Spontan äußerten Veranstaltungsgäste den Wunsch, 2025 gemeinsam mit Oliver Schneemann eine Friedensfahrt in die angesprochene Region durchzuführen.
Die Türen in Belarus stehen offen– trotz alledem
Herr Sipko als Botschaftsvertreter bestätigte in seiner Rede die immense Bedeutung der Erinnerung an die Tragödie des 2. Weltkriegs für das nationale historische Bewusstsein. Er bedauerte zutiefst die Politisierung aller bilateralen Verbindungen durch die deutsche Regierung in den letzten Jahren, damit einhergehend leider auch ein Verdrängen der deutschen Schuld und kein Bemühen um Annäherung. Im Gegenteil: Reisebeschränkungen und andere Restriktionen verhindern jegliche von Belarus gewünschte Aussöhnungsschritte. (Die gesamte Rede von Herrn Sipko finden Sie unten im Anhang.)
Deutlich wurde an diesem Abend
- dass neben der Anerkennung des Leids der jüdischen Opfer und den folgerichtigen Unterstützungsleistungen ebenso zur Verantwortung Deutschlands eine Anerkennung des Leids der slawischen und anderer Völker der ehemaligen Sowjetunion sowie entsprechende Unterstützungsleistungen gehören,
- dass die deutsche Regierung nicht im Traum daran denkt, die immerwährende Verantwortung für das in Belarus mit Millionen von Opfern angerichtete Leid ebenso zur ‚Staatsräson‘ zu erklären,
- dass man aber auf jeden Fall die Erinnerung an das unfassbare Unrecht jener Zeit wachhalten müsse,
- und dass man sich dort nichts sehnlicher wünscht als (endlich) normale, gute nachbarschaft-liche Beziehungen zu Deutschland – friedlich, respektvoll, auf Augenhöhe.
- dass dazu als wichtiger Schritt wieder Besuchsmöglichkeiten und Reisefreiheit gehören. Um diese zu fördern hat Belarus die Visafreiheit eingeführt,
- dass die Menschen dort keinen Groll gegen deutsche Bürger haben. Die Nachfahren der Täter haben die Chance, ein Deutschland zu repräsentieren, dass Respekt und aufrichtiges Interesse am Leben der Menschen in Belarus zum Ausdruck bringt.
Text: W.M.; Abbildungen: Hartmut Drewes; Georg Maria Vormschlag
Rede von Herrn Sergej Sipko als Vertreter der Botschaft der Republik Belarus
Gehalten am 22. Oktober 2024 in Bremen
Sehr geehrter Herr Müller,
sehr geehrter Herr Schneemann,
sehr geehrte Damen und Herren,
herzlichen Dank für die Einladung zu dieser Veranstaltung, die uns an die tragischen Ereignisse des Zweiten Weltkrieges in Belarus erinnert.
Warum ist das Thema der historischen Verantwortung für uns wichtig?
Belarus und belarussisches Volk haben in diesem schrecklichen Krieg besonders stark gelitten. Nach aktuellen Einschätzungen starb in der Kriegszeit jeder dritte Einwohner von Belarus – insgesamt fast 3 Millionen Menschen. Im Verhältnis zum Bevölkerungsstand vor dem Krieg ist es die höchste und erschreckende Zahl unter allen anderen Ländern und Nationen.
Hunderttausende Belarusen verloren ihr Leben an den Kriegsfronten, aber gerade die Zivilbevölkerung wurde zum Hauptopfer auf dem von den Faschisten besetzten Territorium von Belarus. Die Kriegshandlungen und drei Jahre der Nazi-Besatzung brachten Tod, Leid und Schmerz in fast jede belarussische Familie. Viele Städte, auch die Hauptstadt Minsk, wurden vollständig zerstört. Hunderte von Dörfern wurden mit ihren Bewohnern verbrannt. Das belarussische Dorf Chatyn ist eines der bekanntesten Symbole dieses unvorstellbaren entsetzlichen Leidens.
Die Tragödie des Zweiten Weltkrieges und der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg gehören zu den wichtigsten Bausteinen des nationalen historischen Gedächtnisses und des Selbstbewusstseins der Belarusen. In diesem Jahr feiern wir ein besonderes Datum in der Geschichte von Belarus – 80. Jahrestag der Befreiung des Landes von nationalsozialistischen Besatzern. Und diese Veranstaltung ist ein sehr wichtiges Zeichen, dass man sich gerade in Deutschland an die schrecklichen Verbrechen damals erinnert und belarussische, aber auch alle Opfer des Krieges nicht vergessen sind.
Leider werden von deutscher Seite viele historische und kulturelle Prozesse politisiert und die Kontakte mit Belarus zur gemeinsamen Erforschung dieser Zeit eingestellt.
Die Situation mit dem Museum Berlin-Karlshorst ist ein Beispiel dafür. Die Senatsverwaltung Berlin für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt hat im September 2024 geantwortet: « Zitat: das staatliche Weltkriegsmuseum in Minsk ist Mitglied im Trägerverein des Museums Berlin-Karlshorst. Die Zusammenarbeit mit der Einrichtung wurde jedoch auf ein Minimum reduziert. Zur Aufrechterhaltung der Handlungsfähigkeit des Trägervereins werden ausschließlich unabdingbare Entscheidungen im Umlaufverfahren getroffen. Eine Zusammenarbeit mit anderen belarussischen staatlichen Stellen findet nicht statt … Offizielle Vertreterinnen und Vertreter des belarussischen Staates werden zu Veranstaltungen im Museum nicht eingeladen, da Belarus den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine unterstützt, Zitatende». Wir verstehen gar nicht, warum zwei verschiedene Situationen miteinander vermischt werden. Ohne die belarussische und die russische Seite können die Ereignisse einseitig interpretiert werden.
In diesem Jahr haben wir Briefe von der Verwaltung der Gedenkstätten Buchenwald, Mittelbau-Dora, Sachsenhausen, Ravensbrück erhalten, in denen diese forderten, dass die belarussische Seite nicht an offiziellen Veranstaltungen zum 79. Jahrestag ihrer Befreiung teilnehmen sollte. Wir haben aber an jedem dieser Orte Kränze zu Ehren der Toten niedergelegt und werden dies auch weiterhin tun.
In der Antwort der Bundesregierung Nr. 20/12567 auf eine Anfrage einer Bundestagsfraktion heißt es, dass Berlin eng mit Warschau zusammenarbeitet, um die deutsch-polnische Vergangenheit im Kontext des Zweiten Weltkriegs aufzuarbeiten. Darüber hinaus ist laut Deutsch-Polnischem Aktionsplan vom Juli 2024 der Bau eines «Deutsch-Polnischen Hauses» in Berlin zum Gedenken an die polnischen Opfer des NS-Regimes vorgesehen. Für das offizielle Berlin stellt sich die Frage, ob es in dieser Frage eine Zusammenarbeit mit den Regierungen Russlands, Belarus‘ und der Ukraine gibt, die während des Zweiten Weltkriegs am meisten betroffen waren?
Ist dies eine Einteilung der Nationen in Kategorien?
Wir wollen nichts sagen, aber es gab eine Zeit in der deutschen Geschichte, in der die Völker in Kategorien und Klassen eingeteilt waren … Das darf nicht wieder passieren … Wir müssen also für diese Zeit zusammenarbeiten, damit die Menschen erkennen, was passieren kann, wenn die Fehler der Vergangenheit nicht berücksichtigt werden.
Wir fordern keine Reparationen, wir fordern keinerlei Wiedergutmachung, wir plädieren für gemeinsames Handeln und die Bewahrung des historischen Gedächtnisses für künftige Generationen.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde!
Vor dem Hintergrund der Erinnerungen an die Tragödie des Zweiten Weltkrieges betrachten wir es als bedauerlich, dass sich viele in der EU und leider auch in Deutschland heute für die gefährliche und aussichtslose Logik der Konfrontation, der Abgrenzung und der Blockierung mit Bezug auf Belarus entschieden haben. Die entsprechenden Sanktionsmaßnahmen haben zum Beispiel die Kontakte zwischen Belarusen und Deutschen drastisch erschwert. Wegen der auf EU-Initiative unterbrochenen Flug- und Bahnverbindungen zwischen unseren Ländern, wegen der Schließung durch Litauen und Polen einer Reihe der Grenzübergänge an der EU-Grenze mit Belarus müssen diejenigen, die mit dem Auto oder Bus reisen, tagelang unter unmenschlichen Bedingungen warten. Diese restriktiven Maßnahmen scheinen darauf gerichtet zu sein, einen neuen Eisernen Vorhang in Europa aufzubauen. Entsprechend negativ wirken sie sich auf grenzüberschreitende Kontakte zwischen den Menschen, familiäre und freundschaftliche Verbindungen, humanitäre und kulturelle Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern aus.
Die heutige Veranstaltung ist aber der beste Beweis dafür, dass sich die Kontakte und gemeinsame Projekte mit den deutschen Freunden in vielen Bereichen auch in dieser schwierigen Zeit trotz aller künstlichen Hindernisse und Barrieren fortsetzen. Dazu wird hoffentlich auch die von Belarus im Juli dieses Jahres eingeführte visafreie Einreise für Bürger von 35 europäischen Staaten, unter anderem auch aus Deutschland, beitragen.
Im Namen der Botschaft der Republik Belarus danke ich Herrn Müller, Herrn Schneemann und allen, die bei der Vorbereitung dieser Veranstaltung mitgewirkt haben, sehr herzlich. Ihr Engagement und Ihre Unterstützung sind für bilaterale deutsch-belarussische Beziehungen und für Verständigung zwischen unseren Völkern sehr wichtig.
Vielen Dank, weiter so und viel Erfolg!