Wer zurzeit eine Urlaubsreise nach Russland macht, dem glauben manche Mitmenschen nicht, dass es aus diesem Lande etwas Positives zu berichten gibt. Seit über 10 Jahren wird hier in Politik und Zivilgesellschaft ein Zerrbild Russlands vermittelt, dass sich meilenweit entfernt hat von der Lebensrealität der Menschen in Russland und der Kultur des Landes, welche so viel mit unserer Kultur zu tun hat.

Nun hat im September 2025 eine Gruppe von Bremer Bürgerinnen und Bürgern eine Kulturreise nach St. Petersburg und Moskau unternommen, um mit eigenen Augen zu „sehen“. Und zwar nicht nur vermittelt über Zweitquellen zu „hören“ – dies meist von Leuten, die nie im Land gewesen sind, zumindest nicht in den letzten Jahren. Wir wollen berichten, was wir tatsächlich gesehen, gehört, erlebt und in Tagebuchsplittern niedergeschrieben haben.

Bewegende Fragen und überraschende Antworten

Die Fragen, die uns bewegten: Wie sieht es aus in diesem Land und bei diesen Menschen? Was ist die Botschaft Russlands an die Europäer, die Russland fürchten? Sollen oder müssen die Europäer Angst haben oder sollten sie besser einmal ohne jede Agitation zuhören? Das lernt man eben am besten im Sehen und Sprechen mit den Russen selbst, am allerbesten während eines Besuches. Wer sich die riesige Fläche dieses Landes mit 11 Zeitzonen bis Wladiwostok anschaut, weiß, dass Moskau und St. Petersburg ihre historischen Sonderstellungen („Leuchtturmfunktionen“) haben. Nicht alles kann von diesen Städten sofort und gleich auf die Fläche des Landes übertragen werden, aber das meiste strahlt später von hier in die russische Provinz. Zar Peter der Große bereiste Anfang des 18. Jahrhunderts Westeuropa, gründete St. Petersburg an der Ostsee und machte es zu Russlands Hauptstadt. Von hier aus, und später von Moskau, sind die Standards dann möglichst weit und möglichst schnell in die gesamte Föderation diffundiert.

Die erste Erzählung: Nach Russland reisen, geht das?

Reisen nach Russland sind doch 2025 gar nicht mehr machbar. Ja, es ist hinsichtlich der Route komplizierter, aber die Reise verlief nach guter Vorbereitung durch das Reisebüro Go East aus Hamburg sehr gut. Wir hatten keinerlei Komplikationen bei der An- und Abreise, alle Verbindungen Bremen – Istanbul – Moskau – St. Petersburg (mit „Aurora“- Schnellzug) – Bremen waren auf die Minute pünktlich. Das nach wiederholten Terrorakten in den letzten 10 Jahren sicherheitsbetonte digital gesteuerte Ein- und Ausreiseverfahren (Pass, Devisen, Aufenthalt, 16-tägiges online- Visum) war höflich, korrekt und in jeder Weise transparent. Noch während des Zwischenstopps auf dem Istanbuler Flughafen erhält die Gruppe eine kurze Einführung in die russische Sprache und erfuhr dabei die engen historischen und auch sprachlichen Verflechtungen. Lehnworte aus dem Deutschen (Butterbrot, Kindergarten, Maßstab, Meister, Rucksack), aus dem Französischen (Plattform, Chaussee), aus dem Englischen (Businessman, Computer) stehen solche entgegen, die aus Russland nach Europa gebracht wurden, das bekannteste wohl „Bistro“ als Synonym für schnell, besonders bei Schnellrestaurants.

Die Reiseleitungen in Moskau und St. Petersburg taten weit mehr als nur „ihre Pflicht“. In den Hotels, an Bahn- und Flughäfen, an öffentlichen Plätzen wie auf dem Arbat (Fußgängerzone) in Moskau – überall wurden wir Deutsche mit großer Herzlichkeit empfangen. Es wurde stets betont, wie willkommen wir sind. Der westliche Touristenstrom hat nach 2019 deutlich abgenommen. Und tatsächlich gibt es sie kaum: die Deutschen, Franzosen, Engländer, US- Amerikaner. Eine einzige Gruppe von Holländern haben wir auf der gesamten Reise gesehen!

Stattdessen: ganz viele Chinesen, Inder, Iraner, Ägypter, Golfstaatler, die heute visumfrei nach Russland reisen können.

Die zweite Erzählung: Mediale Darstellungen und Augenschein

In deutschen Medien ist die Rede vom „rückständigen“ Russland, das technisch und baulich den Anschluss an den Weltmaßstab verloren hat und zurückgefallen sein soll. Wer mit eigenen Augen vor Ort sieht, der sieht die aktuelle Wirklichkeit in Moskau und St. Petersburg mit einer fortgeschrittenen Technik, z. B. mit modernen Elektrobussen, mit autonomem Fahren, mit Roboterboten zur Versendung von Lasten auf den Straßen und einem hohen Maß der Digitalisierung. Weh tun muss, dies besonders uns Deutschen, da es deutsche Autos wie Mercedes, BMW und Volkswagen nur aus verflossenen Jahren gibt; aktuelle Busse und PKWs tragen bei uns kaum bekannte Namen wie Haval, Geely, Omodo, Cherry, Higer, Acora, Khansi oder Vogan und sind überwiegend chinesischer Herkunft.

Eine verblüffende Marginalie: der bei uns recht beliebte Dacia Logan tritt in Russland baugleich als Lada auf und ist in beiden Städten auffällig verbreitet.

Unsere Züge fuhren äußerst pünktlich, unsere Flugzeuge genau nach Plan, so wie damals in Deutschland, als der Slogan „So pünktlich wie die Deutsche Bahn“ galt – heute steht das viel eher für Russland. Mit dem Blick eines Architekten sieht man breite Straßen und neue Wohnhäuser. Das Panorama von Moskau City kann es mit New York, Chicago oder Shanghai aufnehmen. Auf dem Gelände der ehemaligen Automobilfabrik ZIL entsteht nun das zeitgenössische ZIL Art Center.

Die dritte Erzählung: Internationale Konzerne auf der Flucht

Es wird betont, das europäische und US-amerikanische Firmen Russland verlassen haben. Das ist wohl auch überwiegend richtig: westliche Firmen sind zugunsten chinesischer erheblich weniger geworden. Aber nach wie vor fanden wir „mit eigenen Augen“ am Straßenrand Reklamen von Miele, famila, OBI, Stockmann, Raiffeisen, Globus, Nestle, Leonardo, Schenker. Sind dies nur Reklamerelikte oder sind diese Firmen tatsächlich noch in Russland? Auch US-amerikanische und englische Firmennamen sind bis heute präsent, wie z. B. Burger King oder auch McDonalds, welches nun unter russischer Regie unter „wkuzno i totschka“ (Geschmack! Punkt!) firmiert und sich – wie in Moskau vernommen – ein vertragliches Rückkehrrecht nach Russland vorbehält.

Die vierte Erzählung: Akzeptanz der russischen Regierung

Medien in Deutschland betonen den angeblich geringen Rückhalt aus der russischen Bevölkerung zur derzeitigen Russland- und Weltpolitik. Natürlich wissen wir um russische Menschen, die mit den Positionen der gegenwärtigen russischen Politik nicht einverstanden sind und zum Großteil längst im Westen leben. Wir haben auf unserer Reise nie erlebt, dass Kritik unterdrückt wird, aber wir haben erlebt, dass die große Menge der russischen Bevölkerung zu „ihrem“ aktuellen Russland „steht“. Dies nicht nur auf Anfrage, sondern proaktiv! Die Menschen sind gut darüber informiert, wie wir im Westen ticken.

Das Dafür-Einstehen zu Land und Politik haben wir immer wieder mit eigenen Ohren gehört, sei es in Gesprächen auf der Straße, aber auch bei unserem Besuch im „Dreifaltigkeitskloster des Heiligen Sergius“ in Sergiew Possad, wo das „Tempo des Lebens“, so ein Zitat des vortragenden Mönches, so ganz anders ist als im benachbarten, von Politik und Business geprägten Moskau. Hier wurde uns auch sehr glaubhaft die tiefe orthodox-christliche Gläubigkeit vermittelt, auch und gerade die der Frauen („das Gebet der Mutter bewegt viel“).

In den Erinnerungen an unsere Reise fiel uns auch immer wieder der selbstverständliche Respekt der Menschen untereinander im Alltag und im Umgang mit Gemeinschaftsgütern auf: Jüngere bieten den Älteren ihren Platz in der Metro an; man steht rechts auf der Rolltreppe und lässt Eiligere links passieren; auch in der rush hour gibt es kein Gedränge und Gestoße, weder auf Bahnsteigen, noch in Bussen und Bahnen oder an Sicherheitsschleusen; öffentliche Anlagen haben keine Graffitis; kaum liegt Müll auf den Straßen oder in den Blumenbeeten – all das vermissen wir Reisenden aus dem Westen. Besonders deutlich wird der Respekt auch am „Memorial“ für den Großen Vaterländischen Krieg und die Blockade Leningrads. Eine ruhige und getragene Stimmung lässt uns dort „in uns gehen“.

Die fünfte Erzählung: Bildungssystem von gestern

Die deutsche Legendenbildung bezieht sich auf die angeblich marode Bildung und den angeblich „mittelalterlichen“ Umgang mit kranken und behinderten Menschen in Russland. Hierzu besuchten wir ganztägig die integrative, öffentliche und schulgeldfreie Schule 109 in Moskau, die bis vor wenigen Jahren auf einen 25jährigen Kontakt zu einer Schule in Bremen zurückblickte. Sie besteht zurzeit aus einem Altbau von 1976 und einem wenige Kilometer entfernten Neubau, der gerade fertiggestellt wurde.

Der Schulleiter formulierte klar: „Es ist sehr wichtig, dass ihr da seid. Ihr habt gesehen, wie wir hier arbeiten. Ich bitte euch, sagt das zuhause! Und wir lernen Deutsch weiter!“ Besonders beeindruckte uns die hier erlebte zugewandte inklusive Arbeit mit Kindern mit verschiedenen Einschränkungen und Krankheiten. Angebote wie der „Eichenbaum der Weisheit“, der „Arbat (Ruhezone) oder das Entspannungszimmer mit dem „Sprechenden Ei“, ferner behindertengerechte Nasszellen, Therapiebecken, Plätze und Räume für Aktivitäten wie Reiten (Tiergestützte Pädagogik) oder den großzügigen Theatersaal finden wir in dieser umfassenden Qualität selten in staatlichen deutschen Schulen.

Ich zitiere noch einmal den älteren Schulleiter Jamburg mit seinen, nicht nur für uns, nachdenkenswerten Aussagen: „Auch der gesunde Mensch braucht eine Umgebung, die ungesund oder krank ist – da lernen wir am meisten“, ferner: „Der Geist hat mehr Kraft als der Körper“, aber auch „Der Pädagoge schafft Zufriedenheit durch Freude, Offenheit und Humor“. Genau diese haben wir unter den hier Lernenden und Lehrenden erlebt. Beim Abschied hat uns die Skulptur des in Russland verehrten Dichters, Liedermachers und Schriftstellers Bulat Okudshawa (Stimme der Hoffnung – „golos nadeshdy“) im Eingangsbereich sehr berührt.

Keine Erzählung, aber unvergesslich

Die Ausstellung in St. Petersburg über die „Art Deco-Mode“ in der Eremitage, heute eines der größten Museen der Welt, hat uns tief berührt. Hinsichtlich der gezeigten Auswahl, des pädagogischen Konzeptes und der technischen Performance kamen wir aus dem Staunen nicht raus.

Conclusio

Selbst sehen und selbst hören sind beste Voraussetzungen für verstehen wollen und verstehen können – gerade in heutigen schwierigen Zeiten. Aber ist dies nicht genau die DNA unserer demokratischen Gesellschaft, in diesem Namen für eine konstruktive und demokratische Streitkultur einzustehen? Hier, genau hier wäre zu beweisen, ob wir respektvoll (das Schlüsselwort!) und im Dialog mit Russland kommunizieren wollen.

Unsere Geografie können wir nicht ändern. Wir sind als Nachbarn dauerhaft verbunden und diese Nachbarschaft sollte zum Wohle der Menschen friedlich gestaltet werden. Das erwarten wir von allen Regierungen.

Autor: Thomas Meyer-Bohé
Abbildungen: Vereinsarchiv