Bericht über eine Friedensfahrt nach Belarus vom 24.-30. Juli 2024

von Wolfgang Müller und Ludmila Schmidt

Dieser Bericht ist chronologisch / tageweise verfasst.

Am Ende ein kurzes Resume: Bleibende Eindrücke

Organisiert hat die Reise Oliver Schneemann vom „Prospect Mira“. Der Verein (i.Gr.) besteht aus Friedensfreunden, die sich insbesondere um bessere zivilgesellschaftliche Kontakte zwischen Deutschland und Weißrussland/Belarus kümmern.

Anlass dieser Reise ist der 80. Jahrestag der Befreiung Brests vom deutschen Faschismus am 28.7.1944. Neben Brest haben wir auch vier weitere Gedenk-orte in der Brester Region besucht.

Da seit dem 19.Juli 2024 Einreisen nach Belarus (für 37 europäische Länder) auch ohne Visum für max. 30 Tage möglich sind, hätten wir unsere vorbereiteten Visa gar nicht benötigt. Trotzdem hat die Wartezeit vor dem polnischen Schlagbaum ca. 5 Stunden gedauert. Unser Quartier hatten wir in Brest. Als kleine Gruppe von 10 Personen konnten wir uns von Brest aus mit 3 Privat-PKW dann gut bewegen.

25.7.24 – Domatchevo

Auf (wie überall) guten Straßen erreichen wir nach ca. 40 km den kleinen Ort und treffen in der Schule zunächst die Schulleiterin, später kommt der Bürgermeister Herr Struk hinzu. Die Schule hat in der Region eine besondere Rolle. Sie ist kürzlich ausgezeichnet worden als nationale Friedensschule. Dies vor allem, weil sie sich vorbildlich um die beiden Denkorte in Domatchevo kümmern. Beide Denkmäler erinnern an folgende Tragödie:

Am 23.9.1942 wurden hier in einem Waldstück 53 von 55 Waisenkindern (2 konnten während des Transports entkommen) und ihre ‚Mutter‘/ Betreuerin/ Lehrerin Polina Grokholskaja von Wehrmachtsangehörigen in einer natürlichen Senke erschossen. Das jüngste Kind war 4 Jahre alt.

Polina hatte als sehr junge Frau ein Jahr vorher – 1941 nach den blutigen Kämpfen um die Brester Festung – die verwaisten Kinder von der Straße geholt und aufs Land nach Domatchevo gebracht, wo sie ein großes Haus nutzen konnte, in dem sie sich aufopfernd um ‚ihre‘ Kinder kümmerte. Dort blieb sie bis zum 23. September 1942 bei ihnen.

Einige der örtlichen Verräter informierten die Besatzer, dass im Waisenhaus Kinder der Roten Armee und der Kommunisten lebten. Die Faschisten beschlossen, die Kinder zu erschießen. Polina wurde angeboten, den Kindern nicht zu folgen, aber sie lehnte ab. Polina Grokholskaya teilte das Schicksal ihrer Zöglinge und war bis zur letzten Minute bei ihnen. Sie war 20 Jahre alt.

Die Schüler kümmern sich ganzjährig um die Pflege der Gedenkstätte, die ca.2 km vom Dorf in der Nähe des Tatorts errichtet wurde. Z.B. werden jedes Jahr die 55 weißen Plastiktauben erneuert, die in den umstehenden Büschen aufgehängt sind; ebenso die Blumen und das Spielzeug, das die Grabstätte ziert. Unsere Gesprächspartner haben sich sehr über unsere Anteilnahme gefreut, und dass wir, gerade als Deutsche, uns auf den Weg in diese abgelegene Region gemacht haben. Dass wir in Bremen unsere Friedenstage in diesem Jahr den Opfern der Kriegsverbrechen in Weißrussland widmen, wurde mit Hochachtung zur Kenntnis genommen.

Den Kranz mit der Schleife unseres Vereins und den Worten ‚Niemand ist vergessen – nichts ist vergessen‘ (auch auf russisch) haben wir an einem nahen, größeren Denkmal (mit der Inschrift ‚Protest!‘) an einer befahrenen Straße niedergelegt.

26.7.24 – Vistychi

Nachmittags waren wir zu einer Gedenkfeier ganz anderer Art in das kleine ca. 50 km von Brest entfernte Agrarstädtchen Vistychi eingeladen. Leider hatten wir die Fahrzeit falsch eingeschätzt und kamen 10 Minuten zu spät zu dem offiziellen Festakt der Kranzniederlegung, bei dem wir als deutsche Delegation schon eingeplant waren – aber das konnte noch nachgeholt werden….

Die Zeremonie war Teil eines großen Volksfestes unter freiem Himmel.. Nach deutschen Maßstäben: eine Mischung aus Gedenkfeier und Erntedankfest – das Ganze aber ohne Bierzelt, Kommerz und Trunkenheit. Dafür aber mit einer großen Bühne für Show- und Gesangsaufführungen, jede Menge Kinder-spielgeräte und -belustigung, Künstler, die ihre Werke präsentierten, sehr viele Stände von (v.a.) Frauen in traditionellen Trachten mit leckeren, selbstgemachten oder selbst geernteten Köstlichkeiten; eine Jury versuchte, die schönsten/ interessantesten Stände zu bewerten und zu prämieren.

Vor allem ältere Männer hatten auch Stellwände vorbereitet, die an den Großen Vaterländischen Krieg, an seine Siege und seine Opfer erinnerten. Gerade dort wurden wir intensiv Willkommen geheißen.

Aktuelle Militärfahrzeuge und sogar eine riesige mobile SS-300-Flugabwehranlage war hautnah zu besichtigen – sogar von uns Deutschen.

Vor allem dank Ludmila und zwei weiterer russisch-sprachkundiger Gruppen-mitglieder haben wir überall Kontakt und neue Freunde gefunden – und mussten viele Male mit einem Schluck Wodka oder Likör auf einen erhofften baldigen und dauerhaften Frieden zwischen Ost und West trinken … Zum Glück gab es ja noch die große Open-Air-Tanzfläche, um einem ernsthaften Rausch entgegenzuwirken.

Beeindruckt und zufrieden kamen wir spät am Abend zurück nach Brest.

27.7.24 – Dremlevo

Eine Fahrt – 30 km – in die Natur; Natur mit einer großen Erinnerungsfläche, Kreuzen und Denkmälern.Die Geschichte dazu:

Am 11.Sept (sic) 1942 wurde hier das Dorf Dremlevo von der 10. Kompanie des 3. Bataillons des 13. Polizeiregiments ausgelöscht, verbrannt. Wertgegenstände, Vieh, Getreide u.a. wurde geraubt, die Menschen wurden aber in 4 Scheunen zuerst gelockt, dann getrieben – Männer und Frauen getrennt, dann wurden die Tore verrammelt und die Scheunen, wie auch alle anderen Häuser des Dorfes, in Brand gesteckt. Wer irgendwie noch rauskam, wurde erschossen.

Die geschätzten Opferzahlen in diesem Dorf schwanken stark: zwischen 300 und 2.000 (189 Menschen sind namentlich erfasst). Etwa 30 Dorfbewohner sind aus – verschiedenen Gründen – den Mördern entkommen und konnten als Zeitzeugen aussagen. Die einzige heute noch lebende Zeugin, die 86-jährige Vera Samsonovna etwa, war gerade bei ihrer Großmutter im Nachbardorf gewesen.

Auf diese und ähnliche Weise wurden von der deutschen Wehrmacht/SS gemäß dem Generalplan Ost allein in Weißrussland mehr als 10.000 Dörfer verbrannt oder zerstört.

Die ganze Geschichte mit vielen furchtbaren Details wurde uns von dem Historiker Anatoly Benzjaruk geschildert. Begleitet wurde er von der Leiterin des PR-Büros der Nachbargemeinde. Er berichtete, dass in den letzten zwei Jahren bereits 18 Besuchergruppen den Ort aufgesucht hätten – nicht zuletzt aufgrund der Berichte, die Oliver mit seiner Initiative in Deutschland öffentlich gemacht hat.

Unseren Kranz legten wir an das große Denkmal mit den 3 Frauen – neben 3 andere frische Kränze. Die drei Frauen stehen für drei Generationen – Vergangenheit, Gegenwart Zukunft.

Danach besuchten wir im Nachbardorf noch die letzte Überlebende, Vera Samsonovna, im Nachbardorf Stepanik – nicht ohne vorher im Dorfladen reichlich für sie eingekauft zu haben. Sie lebt in sehr bescheidenen Verhältnissen, immer noch im alten Haus ihrer Familie, mit einem großen Garten mit Obstbäumen, Weidefläche und einigen Tieren (Kaninchen, Katzen) – gleich neben jener Kirche, die schon am 11.9.1942 den Großen Brand des Nachbardorfes mit ihrem Glockengeläut nur begleiten konnte. Die Erinnerung an diese Ereignisse lebt jeden Tag im Gedächtnis von Vera Samsonowna weiter. Sie erinnert sich an das Feuer „bis zum Himmel“ und hört noch heute die Schreie der Menschen, die von den Flammen verschlungen wurden. Und sie erinnert sich an die Faschisten, die nicht zuließen, dass die Bewohner der Nachbardörfer nach Dremlevo eilten, um Hilfe zu holen.

Sie war sehr erfreut, Oliver und auch uns (wieder)zusehen und hat uns und der ganzen Welt zum Abschied nur Frieden gewünscht.

28.7.24 – Brest

Für diesen Hauptfeiertag, einen Sonntag, kannte Petrus keine Gnade. Kaltes und stürmisches Schauerwetter war der Bedeutung der Veranstaltung auf dem Brester Friedensplatz nicht angemessen. Gleichwohl machten wir hier Bekanntschaften, sowohl mit Teilnehmern einer anderen, ebenfalls privat organisierten Gruppe aus Deutschland (NRW), als auch mit einzelnen Veteranen, die die Kämpfe um Brest (1941 und 1944) persönlich miterlebt hatten – und die sehr froh waren, uns als Deutsche an diesem Gedenktag in Brest begrüßen zu können.

Mit unseren Nelkensträußchen mit schwarz-rot-goldenen Schleifen in der einen und einem Schirm in der anderen Hand ließen wir uns einreihen zum Defilee der Kranzniederlegung am großen Ehrenmal. Musik erklang aus Lautsprechern und zwei höherrangige Politiker hielten jeweils recht kurze Reden. Angesichts des Wetters leerte sich der Platz der Veranstaltung recht bald und auch wir wärmten uns bei einem Glas Tee im Café um die Ecke.

Der zweite, eigentlich wichtigere Teil des Gedenktages sollte – wie in jedem Jahr – auf dem riesigen Platz in der 2 km entfernt liegenden Brest Festung stattfinden. Oliver berichtete über riesige Menschenmengen, die sich in den Vorjahren bei schönem Wetter dort einzufinden pflegten. Wir beschlossen, auch dorthin zugehen sobald das Regenwetter aufhören würde, um dort unseren vorbereiteten Kranz niederzulegen.

In der Zwischenzeit trafen wir uns mit dem Chefredakteur der großen Brester Tageszeitung; dieses angedachte Informationsgespräch über den Zweck unserer Brest-Reise weitete sich allerdings schnell in einen intensiven Meinungsaustausch über das gegenwärtige Ost-West-Verhältnis aus. Für den Folgetag wurde uns noch die Begleitung durch eine Fotojournalistin der Zeitung zugesagt.

Stunden später machten wir uns zu fünft trotz immer wieder einsetzenden Regens auf den Weg zur Festung.

Zu Kriegsbeginn 1939 (Überfall auf Polen) lag Brest mitten in Polen und die dortige Festung wurde im Sept. 1939 in 3 Tagen schwerster Kämpfe von der deutschen Armee erobert. Aufgrund des Hitler-Stalin-Pakts wurde kurz darauf Polen geteilt; die Grenze verlief jetzt genau bei Brest. Die gerade eroberte Stadt musste an Russland abgetreten werden – und wurde so zur russischen Grenzstadt.

Gleich zu Beginn des russischen Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 wurde auch Brest in sehr verlustreichen Kämpfen erneut gestürmt. In der weiträumigen Anlage hielten letzte russische Verteidiger bis Ende Juli Stand. Am Ende waren über 2.000 Rotarmisten gefallen, ca 4.800 kamen z.T. schwerverwundet in deutsche Gefangenschaft.

Zum Kriegsende wurde Brest am 28. Juli 1943 als letzte Stadt Weißrusslands endlich von deutscher Besatzung befreit. Daher ist dieser Tag ein so wichtiger Festtag.

Auf dem weitläufigen, imponierend gestalteten Gelände angekommen, mussten wir allerdings – schon ziemlich durchnässt – auf eine genauere Besichtigung verzichten, haben unseren Gedenkkranz aber an einer windgeschützten Stelle angemessen platzieren können – und dann schnell zurück ins warme Hotel….

29.7.24 – Roszkovka

Wieder eine morgendliche Anfahrt von etwa 45 Minuten. Ziel ist ein kleines, fast verlassenes Dorf (40 Einwohner) in einem waldreichen Gebiet nördlich Brest an der Grenze zu Polen. Am Rande einer abgelegenen sandigen Piste treffen wir an einem Denkmal 4 Personen: den Bezirkschef der Region Kamenets, den Bürgermeister den Pfarrer und die angekündigte Fotoreporterin. Das große geschmückte Kreuz, an dem wir uns treffen, erinnert diesmal aber nicht an Opfer und Tote, sondern an Überlebende. Die Geschichte dazu:

Am 29.9.1942 wurden 264 (meist männliche) Einwohner des Ortes Roszkovka von einem deutschen Polizeibataillon zwecks Erschießung am Rande eines schon ausgehobenen Massengrabes aufgestellt. Alle anderen Arbeitsfähigen (ab 12 Jahren) sind schon auf dem Weg, nach Deutschland deportiert zu werden. Es fehlt aber noch der offizielle Erschießungsbefehl des Kommandeurs. Dieser nähert sich in Gestalt der Majors Emil Herbst per Flugzeug. Die Überlieferung sagt, während dieses Fluges habe Major Herbst eine Marienerscheinung gehabt, die ihm das Erschießen dieser Menschen verunmöglicht habe. In Gesprächen mit Bewohnern vergewissert er sich, dass das Dorf nie mit Partisanen zusammen gearbeitet hat und erteilt so den Erschießungsbefehl nicht. Auch die schon zur Deportation in die Zwangsarbeit anstehenden Bewohner werden zurück geholt. Die Einwohner von Roszkovka sind ihm unendlich dankbar.

Danach ging die Fahrt weiter zur wenige hundert Meter entfernten Dorfkirche.

Diese wurde als Dank für ihre Rettung innerhalb von 3 Monaten spontan von den Dorfbewohnern erbaut. In ihr befindet sich auch die Original-Marienstatue, die damals von einem Dorfbewohner nach den Angaben von Major Herbst geschnitzt wurde. Bei der festlichen Einweihung der Kirche im Nov. 1943 waren auch Major Herbst und etliche andere deutsche Besatzungssoldaten eingeladen.

Mittlerweile ist die Kirche renoviert und als (positiver) Gedenkort regional bekannt. Dort haben wir auch unser Blumengesteck niedergelegt.
(Auf den Bildbericht in der dortigen Regionalzeitung über unseren Besuch sind wir gespannt.)

Auf der Rückfahrt haben wir noch eine Rast in der Kleinstadt Kamenets eingelegt. Sie hatte bis zum Krieg eine zu fast 90% jüdische Bevölkerung, die von den deutschen Besatzern zunächst ghettoisiert und dann 1942 vernichtet wurde. Große Denkmäler erinnern auch hier an diese Barbarei.

30.7.24 – Rückreise

Kurzes Resumé – Bleibende Eindrücke:

  • Denkmäler gibt es in jedem noch so kleinen Ort
  • Die Denkmäler stehen nicht für Hass / Revanche, sondern für ein Erinnern und Mahnen – zu verhindern, dass so etwas je wieder passiert.
  • Das Gedenken ist nicht nur mit Wehmut und Trauer verbunden, sondern gelegentlich auch mit Volksfesten – die für eine friedliche Zukunft stehen/ werben.
  • Das Gedenken ist nicht an den Rand gedrängt, sondern in das Leben integriert, vielleicht gelegentlich schon ritualisiert, aber immer präsent – in der Schule bei Domatchevo z.B. müssen jedes Jahr die neuen Kinder den Sinn der schulischen Denkmalpflege neu erklärt bekommen.
  • Der Wunsch nach Frieden (mir) und Freundschaft (druschba) ist uns überall entgegengekommen.
  • Freundlichkeit / Dankbarkeit / Verwunderung darüber, dass wir – als Deutsche – diese Reise, in z.T. abgelegene Gegenden angetreten haben. Ich habe bei mehreren Gelegenheiten geäußert, evtl. im nächsten Jahr auch mit einer Bremer Gruppe einen Besuch abzustatten. Immer wären wir gerne willkommen !
  • Gelegentlich schwang Verwunderung mit, warum sich Deutschland jetzt/ dort wieder an den NATO-Aktionen beteiligt – nach dieser Vergangenheit vor über 80 Jahren…
  • Überraschung, dass Belarus seit kurzem bei Westtouristen auf Visa verzichtet – der Grenzverkehr aber von polnischer Seite stark behindert wird
  • Von einer wirtschaftlichen Mangellage ist – trotz Sanktionen – nichts zu spüren, die Geschäfte sind voll, auch von vielen westlichen / deutschen Produkten.
  • Wir haben etliche Deutsche (Männer) getroffen, die aus freiem Entschluss nach Belarus umgezogen sind – und sich dort wohl(er) fühlen!

wm/ls – 9.8.2024