Im Folgenden dokumentieren wir die Rede von Pastor i.R. Hartmut Drewes, die er auf der Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag des Überfalls Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion gehalten hat.

Sehr geehrter Herr Skosyrev, Vizekonsul des Generalkonsulats der Russischen Föderation in Hamburg,
sehr geehrte Anwesende,
liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde,

es war Anfang 1945. Ich lebte als fünfjähriges Kind wohlbehütet in Hildesheim. Wir wurden zwar als Kinder bei nächtlichem Fliegeralarm von den Eltern aus dem Schlaf gerissen, um mit ihnen zum Luftschutzbunker aufzubrechen. Aber vor den Luftangriffen hatte ich keine Angst. Meine Eltern waren ja bei mir. Aber eine andere Angst verfolgte mich, nämlich, dass die Russen kommen könnten.

Diese Angst ist offensichtlich in unserer Familie präsent gewesen, und ich hatte sie mir zu eigen gemacht. Eine Bemerkung, die mein Vater in meiner Jugend immer wiederholte, lautete: „Die Russen sind große Diplomaten“ – das war vielleicht auch etwas bewundernd gesagt –, „aber“ – so fügte er warnend hinzu, „man kann ihnen nicht trauen.“ So bezeichnete Adenauer Russland als „asiatische Macht“, als eine „ungeheure Macht, die von ganz anderem Geiste und von ganz anderer Denkungsart ist als wir abendländischen Europäer“.

Mit diesem Feindbild bin ich großgeworden. Auch während meiner Schulzeit wurde es gepflegt. In unserem Geschichtsbuch der fünfziger Jahre stand zu den Kämpfen in der Sowjetunion geschrieben; „Stalin setzte die alten Waffen der russischen Defensive in seine Berechnungen ein“. Unter anderen wird die Strategie der verbrannten Erde genannt. Noch 1963 war das in der zehnten Auflage zu lesen.

Verantwortlich für den Text war Andreas Hillgruber, später Professor für neuere Geschichte in Freiburg und Köln. Er hatte kurzerhand die Tatsachen verdreht. In Wirklichkeit war es genau umgekehrt: Heinrich Himmler wies am 7. September 1943 seinen Obergruppenführer Prützmann an, „dass bei der Räumung von Gebietsteilen in der Ukraine kein Mensch, kein Vieh, kein Zentner Getreide, keine Eisenbahnschiene zurückbleiben; dass kein Haus stehen bleibt, kein Bergwerk vorhanden ist, das nicht für Jahre gestört ist, kein Brunnen vorhanden ist, der nicht vergiftet ist. Der Gegner muss wirklich ein total verbranntes und zerstörtes Land vorfinden.“ Diese Weisungen blieben nicht Worte, sondern wurden umgesetzt, nicht nur von der SS, sondern in gleichem Maße von der Wehrmacht. Sie ließ z.B. etwa drei Millionen sowjetische Kriegsgefangene verhungern, erfrieren, an Seuchen krepieren oder erschießen.

Das alles und vieles andere mehr darf nicht vergessen, ja, muss überhaupt erst in Erinnerung gebracht werden, muss aufgearbeitet werden. Der Bundespräsident hat in seiner beachtenswerten und bereits schon erwähnten Rede vor wenigen Tagen in Berlin-Karlshorst gesagt: „Zu lange haben wir Deutsche das mit Blick auf die Verbrechen im Osten unseres Kontinents nicht getan. Es ist an der Zeit, das nachzuholen.“

In dieser Rede hat er auch hervorgehoben, dass trotz der unvorstellbaren Verbrechen, die Deutschland an den Völkern der Sowjetunion verübt hat, Deutsche in diesen Ländern „gastfreundlich empfangen werden, dass sie willkommen sind, dass man ihnen warmherzig begegnet“, und er fügt hinzu: „das ist nicht weniger als ein Wunder.“

Leider ist Steinmeier mit seinen Aussagen unter den führenden Politikern eine Ausnahme. Heute vor einer Woche lautete die Schlagzeile auf der Titelseite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „NATO sieht Russland und Terror als größte Bedrohung.“ Das war das Hauptergebnis des NATO-Gipfeltreffens in Brüssel. Und die Bundeswehr: Sie übt im Baltikum nicht weit von der russischen Grenze entfernt mit Eurofightern Täuschungsmanöver für den „Ernstfall“. So auf der Website der Bundeswehr zu lesen.

Dem kann nur der Hinweis entgegengehalten werden, dass die meisten Abrüstungsvorschläge und Initiativen zu Abrüstungskonferenzen in den Jahrzehnten nach dem Krieg von der Sowjetunion kamen. Sie hat außerdem mitten im Kalten Krieg die KSZE, die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit angeregt, die mit der Schlussakte von Helsinki ein neues Kapitel Richtung Zusammenarbeit aufschlug.

Wir können den Völkern der Sowjetunion nur ein großes Spassibo, einen tiefen Dank sagen. Sie haben die Hauptlast der Befreiung Deutschlands und der Welt vom Faschismus getragen. Sie haben in den Jahrzehnten nach dem Krieg diplomatische Wege Richtung Frieden möglich gemacht.

Ich möchte mit zwei Zitaten aus den achtziger Jahren enden, die mir bis heute viel bedeuten:

Der Schriftsteller Ralph Giordano hat in einem Rundfunk-Interview gesagt: „Wenn die Russen nach der Regel Auge und Auge, Zahn um Zahn verfahren wären, wäre von Deutschland nichts übriggeblieben.“

Und sein Kollege Walter Jens hat auf dem Hamburger Kirchentag 1981 in einer vollbesetzten Messehalle, an deren Decke viele Fahnen der Evangelischen Kirche mit dem violetten Kreuz hingen, gesagt: „Wenn der Iwan nicht gewesen wäre, hingen hier heute Fahnen mit einem anderen Kreuz, dem Hakenkreuz.“ Das gilt es heute und nicht nur heute zu bedenken.