Von unserem Vereinsmitglied Prof. Armin Bernhard erreichte uns jetzt die Anfrage, ob sein kleiner folgender Text nicht auch auf unsere Website passen würde.

Natürlich sehen wir in jedem Widerstandsappell gegen Militarisierung und Kriegslüsternheit eine logische Ergänzung zu unserer Kerndevise „Frieden schaffen ohne Waffen – Für eine diplomatische Lösung“. Dies gilt ganz unabhängig von jeder Frage der Kriegsschuld.

Armin Bernhard

Kriegsuntüchtigkeit – eine neue Tugend

Wolfgang Borchert wäre wohl aus allen Wolken gefallen, hätte er mitgekriegt, dass einst ein sozialdemokratischer Verteidigungsminister zur Kriegstüchtigkeit Deutsch­lands aufrufen würde. Die schrecklichen Kriegserfahrungen stecken dem Schriftsteller damals, so unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, in den Knochen. Abscheu gegen­über und Angst vor dem Krieg durchatmen die in Schrift gegossenen Gedanken des Schwerkranken. Sein Drama „Draußen vor der Tür“, seine Gedichte und Aphorismen, sein „Manifest“ aus den 1940er Jahren – sie, die oftmals despektierlich der Trüm­mer­li­teratur zugeordnet werden, enthalten nicht nur einen gellenden Aufschrei gegen das Mensch­heitsverbrechen Krieg, sondern fordern unmissverständlich dazu auf, sämtliche Einstellungen, die Kriege ermöglichen, zu blockieren bzw. zu überwinden.

„Helm ab Helm ab“ heißt es in Borcherts „Unser Manifest“, „Wir haben verloren! […] Wir werden nie mehr antreten auf einen Pfiff hin und Jawohl sagen auf ein Gebrüll. Die Kanonen und die Feldwebel brüllen nicht mehr. Wir werden weinen, scheißen und sin­gen, wann wir wollen. […] Und kein General sagt mehr Du zu uns vor der Schlacht. Vor der furchtbaren Schlacht. Wir werden nie mehr Sand in den Zähnen haben vor Angst (Keinen Steppensand, keinen ukrainischen und keinen aus der Cyrenaika oder den der Normandie – und nicht den bitteren bösen Sand unserer Heimat!) Und nie mehr das heiße tolle Gefühl in Gehirn und Gedärm vor der Schlacht.“ [i]

Krasser könnte der Widerspruch nicht sein, in dem Borcherts Plädoyer zu der Aussage des deutschen Verteidigungsministers steht, die weit hinter die Einsicht des Schrift­stel­lers zurückfällt. „Wir müssen kriegstüchtig werden. Wir müssen wehrhaft sein. Und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen“, so der genaue Wortlaut vom Ok­tober 2023 [ii], offenbar unbeeinflusst von den Schrecken von Faschismus und Krieg. Ei­gentlich verschaffte Pistorius nur dem eine größere öffentliche Beachtung, was der Ge­neralinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, verantwortlich für das Weißbuch der Bundeswehr von 2016, bereits im Juli 2023 eingefordert hatte: Kriegstüchtigkeit. [iii] Noch deutlicher wird der Generalinspekteur im Dezember 2023. Deutschland werde es „von außen vorgegeben, wann wir kriegstüchtig sein müssen. Und das heißt für mich: ei­gentlich so schnell wie möglich.“ [iv] Neben der Aufrüstung der Streitkräfte sieht der Ge­neral zwei weitere Grundpfeiler der erstrebten Kriegstüchtigkeit: den viel zitierten ge­sellschaftlichen Mentalitätswandel und die „personelle Einsatzbereitschaft“. Insge­samt geht es um die Stärkung der gesamtgesellschaftlichen Resilienz, die schon im Weiß­buch 2016 an zentraler Stelle der sicherheitspolitischen Strategie steht. Resilienz, so klärt uns die Gesellschaft für Auswärtige Politik e. V. auf, bedeutet „die Bereit­schaft und Fähigkeit einer Gesellschaft, einen Konflikt mit den Einschränkungen und Ver­lusten mitzutragen. Gesellschaftliche Resilienz – mental und physisch – ist unab­ding­bar, um Moral und Zusammenleben aufrechtzuerhalten. Dazu gehört die Sicher­stel­lung von Infrastruktur (Verkehr, Energie, Digitales, Gesundheit), aber auch die öf­fent­liche Demonstration des Glaubens an den Sinn und die Fähigkeit, den Konflikt durch­zustehen.“ [v] Diese militaristischen Aussagen fügen sich ein in eine ganze Reihe von Verlautbarungen, die in dem strategischen Ziel gründen, die nach dem Zweiten Welt­krieg mit gutem Grund entwickelte Kultur der militärischen Zurückhaltung Deutsch­lands endgültig zu zerstören. Da ist die Rede davon, dass die Friedensdivi­den­de aufgebraucht sei, dass Deutschland endlich aus der Friedenskomfortzone heraus­tre­ten, dass die Wehrhaftigkeit gesteigert werden müsse. Militär und Gesellschaft müss­ten resilienter werden, um der ‚modernen‘ Kriegsführung Paroli bieten zu können. Auch wird die „Entfeindung“ (Gauck) zwischen den Völkern als hochproblematisch ein­gestuft, weil sie fälschlicherweise auf vertrauensbildende Maßnahmen angelegt sei, wo doch generelles Misstrauen und Argwohn angesagt seien.

Hand in Hand mit diesen militaristischen Aussagen geht seit Jahrzehnten eine Ge­schichtspolitik, die die Lehren aus den beiden Weltkriegen und dem Faschismus in ihr Ge­genteil verkehrt. Die Kultur der militärischen Zurückhaltung soll durch eine neue wehr­hafte Mentalität ersetzt werden, die gerade in der deutschen Vergangenheit ihre ideologische Begründung findet. Denn aus den Verbrechen des Faschismus lässt sich kein „deutsches Recht auf Wegsehen ableiten“, so der Historiker Heinrich August Wink­ler zum 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges am 8. 5. 2015 vor dem Bun­destag [vi] , nein, aus der nazistischen Vergangenheit wird die moralische Verpflich­tung Deutschlands abgeleitet, sein Militär für ehrenwerte Kriege in aller Welt einzu­setzen, die mit menschenfreundlichen Motiven begründet werden. Dabei muss aus dem Weg geräumt werden, was diese Einsicht der Bevölkerung in die Notwendigkeit militärischen Engagements blockieren könnte. War die Beteiligung der BRD am Krieg gegen Jugoslawien der geschichtliche Sündenfall nach der faschistischen Erfahrung und Zweitem Weltkrieg, so stellte sie zunächst nur eine Episode auf dem Weg dar, den Konsens der Bevölkerung in die Militarisierung eines Landes herzustellen, dem das Pots­damer Abkommen von 1945 aus guten Gründen eine konsequente Demilitari­sie­rung verordnet hatte – verboten werden sollte nicht nur die Aufstellung einer eigenen Streitmacht, sondern auch die Unterhaltung einer eigenen Rüstungsindustrie. Die Men­talität der so genannten postheroischen Gesellschaft [vii], der Politik der Militarisierung, Auf­rüstung und Abschreckung ein Dorn im Auge, wird permanent unter ideologischen Beschuss genommen. So geißelte Altbundespräsident Gauck vor der Führungsaka­de­mie der Bundeswehr schon 2012 folgerichtig die glückssüchtige Gesellschaft [viii], die in hedonistischer Gedankenlosigkeit und Gleichgültigkeit die Tatsache verdränge, dass ihre Existenz sich den aufopfernden Taten ihrer Soldatinnen und Soldaten, den „Mut-Bür­gern in Uniform“, verdanke, die unter dem Einsatz ihres Lebens unsere Freiheit ver­teidigten – überall auf der Welt.

Nach Gauck sind es vaterlandslose Gesellen, die Deutschland in den Rücken fallen, die­ses Mal aber, um es an der Verwirklichung seiner gerechten, friedliebenden Ab­sich­ten zu hindern, d. h. dem militärischen Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen überall in der Welt. Es handele sich hierbei um Menschen, die die Herausforderungen der neuen Zeit noch nicht begriffen hätten und die „Deutschlands historische Schuld“ missbrauchten, „um dahinter Weltabgewandtheit oder Bequemlichkeit zu verstecken.“ Nicht zufällig formulierte Gauck diese elementaren Sätze auf der Münchener Si­cher­heitskonferenz 2014 unter dem vielsagenden Titel „Deutschlands Rolle in der Welt“. [ix] Ein vielfach geschundener und im politischen Jargon entwerteter Begriff wurde bei der neu­en weltpolitischen Rollenbestimmung Deutschlands als Wohlfühlwort des Emotio­nal Marketings eingesetzt: das positiv besetzte Wort der Verantwortung. Deutschland übernimmt endlich Verantwortung, es übernimmt die Verpflichtung, militärisch für die Gestaltung zukünftiger Herausforderungen einzutreten. Der Versuch, Kriegseinsätze durch Kombination mit dem Wort der Verantwortungsübernahme positiv umzudeuten, beraubt nicht nur das Phänomen Krieg seiner Hässlichkeit, sondern attestiert zugleich all denjenigen Verantwortungslosigkeit, die sich aus Gründen der Entspannung und Frie­denspolitik dem militärischen „Engagement“ verweigern. Unter Berufung auf Geschichte werden Antimilitarismus, Anti-Kriegs-Haltungen und Friedensengagement als verantwortungslos denunziert. Menschen, die für vertrauensbildende Maßnahmen und gegen die Waffenlieferungen an die Ukraine sind, gehören als Lumpenpazifisten [x], Verschwörungsideologen und Putinversteher in die Gattung vaterlandsloser Gesellen.

Kriegstüchtigkeit und Mentalitätsveränderung in diesem Sinne bedeuten eine endgül­ti­ge Abwendung von der Kultur der militärischen Zurückhaltung in der so genannten Zeitenwende. Sie zielen auf den systematischen Abbau von Einstellungen, die dem mi­li­taristischen und aufrüstungspolitischen Denken opponieren. Einher damit soll der Auf­bau von Haltungen gehen, die die Resilienz der Bevölkerung angesichts der Zumu­tun­gen und Belastungen der neuen ‚sicherheits’politischen Strategien erhöhen sollen. Zum erstrebten Mentalitätswechsel passt die jüngste Aussage des kriegserprobten Jo­seph Fischer, dass die „pazifistische Grundhaltung“, die sich in Deutschland „breitge­macht“ habe, kontraproduktiv für den Frieden sei, daher durch eine andere, von Miss­trauen geprägte Haltung ersetzt werden müsse. [xi]

Dem Tüchtigmachen für den Krieg, denn nichts anderes bedeuten Kriegstüchtigkeit und die für sie fundamentale gesellschaftliche Resilienz, muss in Friedensbewegung und Friedensarbeit die Tugend der Kriegsuntüchtigkeit entgegengestellt werden. Kriegs­tüchtigkeit, das müsste gerade den Deutschen eigentlich mehr als klar sein, führt auf allen Ebenen in den geschichtlichen Abgrund. Und wenn in Deutschland wieder da­von die Rede ist, dass nicht nur gekämpft, sondern auch gewonnen werden, die Wirt­schaft fremder Länder ruiniert werden soll, und das Wort Sieg, das Gewinnen wol­len (Breuer), wieder fröhliche Urständ feiert, müssten die Alarmglocken jedem laut im Ohr schrillen.

Es ist angesichts des unüberhörbaren Kriegsgeschreis und der gigantischen Aufrü­stungs­maßnahmen höchste Zeit, die angestrebte Kriegstüchtigkeit nachhaltig zu be­kämp­fen. Borcherts kategorischer Imperativ lautet, sich jeder Form von Abschre­ckung, Aufrüstung und Verfeindung zu verweigern, dazu entschieden nein zu sagen. Es ist gerade die Kriegsuntüchtigkeit, die nicht nur, aber insbesondere auch in solchen Zeiten zur fundamentalen Tugend wird. Kriegsuntüchtigkeit ist notwendig, um Zivi­li­siertheit zu ermöglichen. Nur wer kriegsuntüchtig ist, kann friedensfähig werden. Kriegs­untüchtigkeit ist mehr als nur die Abwesenheit einer Einstellung, die auf Ab­schreckung und gewaltsamer Austragung von Konflikten beruht. Kriegsuntüchtigkeit meint die konsequente mentale, geistige und psychische Abrüstung, die Herstellung einer Widerstandsfähigkeit, die Menschen gegen die Rechtfertigungsmuster von Fried­losigkeit und Aufrüstung ‚immunisiert‘. Kriegsuntüchtigkeit ist keine passive Eigen­schaft, sondern eine aktive geistige Tätigkeit, die den Interessen auf der Spur bleibt, die hinter den Aufrufen zu zivil-militärischen Mentalitätsänderungen und Kriegstüch­tig­keit stehen. Kriegsuntüchtig werden, heißt, sich der Mühe zu unterziehen, die Er­zählungen gegen den Strich zu bürsten, die die Menschen in die Abschreckungs- und Auf­rüstungsphantasien einzubinden versuchen. Kriegsuntüchtig werden heißt, den Feind­bildern entgegenzuwirken, die in den Herzen und Hirnen der Menschen nisten, und derer sich die Politik bedient, um ihre Interessen durchzusetzen. Kriegsuntüchtig werden heißt nicht zuletzt, sich gegen die Militarisierung von Wörtern und Begriffen zu wehren, die schon allzu weit in den Alltag und in die Alltagssprache vorgedrungen sind.

Kriegstüchtigkeit – das ist das eigentliche Unwort des Jahres 2023. Es ist so jenseits ei­ner zivilisierten Welt angesiedelt, dass es einem schier den Magen umdreht.

Quellen:

[i] Borchert, Wolfgang (1979): Das Gesamtwerk. Reinbek: Rowohlt

[ii] Fischer, Joseph (2024): Wir können nicht nur auf das Gute im Menschen vertrauen…“. https://www.augsburger-allgemeine.de/politik/interview-joschka-fischer-wir-koennen-nicht-einfach-nur-auf-das-gute-im-menschen-vertrauen-id69118266.html; Zugriff: 18. 1. 2024)

[iii] Gauck, Joachim (2012): Antrittsrede bei der Bundeswehr (https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2012/06/120612-Bundeswehr.html; Zugriff: 16. 1. 2024)

[iv] Gauck, Joachim (2014): Deutschlands Verantwortung in der Welt (https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2014/01/140131-Muenchner-Sicherheitskonferenz.html; Zugriff: 16. 1. 2024)

[v] Mölling, Christian/Torben Schütz (2023): Den nächsten Krieg verhindern. In: GFAP Policy Brief. Heft 32, S. 1-10 (https://dgap.org/system/files/article_pdfs/DGAP%20Policy%20Brief%20Nr-32_November-2023_11S_1.pdf; Zugriff: 16. 1. 2024)

[vi] Münkler, Herfried (2007): Heroische und postheroische Gesellschaften. In: Merkur. Nr. 700. 2007 (https://www.merkur-zeitschrift.de/herfried-muenkler-heroische-und-postheroische-gesellschaften/; Zugriff, 16. 1. 2024)

[vii] Nachgefragt (2023): „Wir müssen so schnell wie möglich kriegstüchtig werden.“ (https://www.bundeswehr.de/de/aktuelles/meldungen/generalinspekteur-zur-kriegstuechtigkeit-bundeswehr-5718502; Zugriff: 16. 1. 2024)

[viii] Ntv 2023: Mentalitätswandel nötig. Oberster Soldat: Bundeswehr muss wieder kriegstüchtig werden. (https://www.n-tv.de/politik/Oberster-Soldat-Bundeswehr-muss-wieder-kriegstuechtig-werden-article24260720.html; Zugriff: 16. 1. 2024)

[ix] Pistorius, Boris (2023): Wir müssen kriegstüchtig werden. (https://www.zeit.de/politik/deutschland/2023-10/pistorius-modernisierung-bundeswehr-kriegsgefahr-europa; Zugriff: 20. 1. 2024)

[x] Winkler, Heinrich August (2015) Rede vor dem Bundestag am 8. 5. 2015 (https://www.bundestag.de/webarchiv/textarchiv/2015/kw19_gedenkstunde_wkii_rede_winkler-373858; Zugriff: 16. 1. 2024)

Informationen zum Autor: Armin Bernhard, Jg. 1957, von 2003-2023 Professor für Allgemeine Päd­agogik an der Universität Duisburg-Essen. Einen Schwerpunkt der Forschung des Autors bilden die er­ziehungs­wi­s­sen­schaft­li­che Friedensforschung und die Friedenspädagogik.

Letzte Veröffentlichungen des Autors zu dieser Thematik: Das Feindbild Russland. Fo­rum Wissenschaft H. 6/2016; Pädagogik des Widerstands. Umrisse einer politisch-päd­agogischen Friedensarbeit. Weinheim u. München 2017; Pädagogik des Friedens in unfriedlichen Verhältnissen. Baltmannsweiler 2020 (Mitherausgeber)